Hast Du denn das Gefühl, das Thema Einsamkeit wird in unserer Gesellschaft überhaupt besprochen?
Sehr grob. Es müsste zumindest mehr sein, gerade auch vielleicht viel im Alter. Die Leute fühlen sich einsam und das wird halt immer so ein bisschen unter den Tisch gekehrt und es wird zwar darüber geredet, aber viel gemacht wird auf jeden Fall nicht, muss ich sagen.
Es kommt plötzlich, der Schreck. Das Gefühl macht sich in der Brust breit. Einsamkeit! Ich habe Angst vor ihr, ich will sie nicht sehen. Sie tut so schrecklich weh.
Würden Sie sagen, es gibt einen Unterschied zwischen alleine sein und einsam sein?
Ja, auf jeden Fall. Gerade als Mutter von drei Kindern bin ich auch ganz gerne mal alleine und empfinde das dann aber nicht als Einsamkeit, sondern einfach als schöne Zeit mit mir selbst, um mich selbst zu spüren, meine Bedürfnisse und meine Gedanken einfach auch mal zu hören. Und Einsamkeit ist ja irgendwie, glaube ich schon, was Unfreiwilliges, was auch so einen gewissen Leidensdruck oder Belastung mit sich bringt.
Momente mit mir allein. Einatmen. Ausatmen. Mein Herz pumpt ständig Blut durch meinen Körper, Lungen füllen sich mit Sauerstoff. Ich rieche, schmecke, höre, sehe. Oft vergesse ich, was für ein Geschenk das Leben ist. Erst im Alleinsein kann ich manchmal sein.
Sind die Menschen vielleicht auch einsamer geworden?
Nein, das will ich mal nicht sagen. Es gibt schon welche, die haben immer ihre Bekannten, wo sie sich immer treffen und so. Bei uns hier oben im Gebirge war es früher noch intensiver als jetzt. Das bringt auch die Zeit mit sich, das ganze Umfeld. Früher gab es ja auch noch kein Fernsehen, da gab es jede Woche Treffen, da haben sie Handarbeiten gemacht. Ich habe geklöppelt. Ich kannte mal eine Klöppellehrerin, die hat, da war ich noch jung, sich das Brautkleid geklöppelt. Aber fragen Sie nicht, wie lange die gesessen hat.
Ich sitze hier, allein seit Stunden, Tagen, Wochen. Meine Finger schon wund. Wo seid ihr alle hin? Kann mir denn niemand helfen? Ihr seid so schnell fort, dabei bin ich noch gar nicht fertig geworden. Lasst mich nicht allein.
Würdest Du sagen, es gibt einen Unterschied zwischen dem Begriff Einsamkeit und Alleinsein?
Ne, also ich bin der Meinung, das ist alles dasselbe. Ich hab das Problem (…) Ich bin einsam. Sie sagen „Ja, du bist doch nicht alleine!“ aber diese Freunde sind halt nicht da und dann ist das eigentlich für mich dasselbe.
Versteht ihr mich? Könnt ihr v-e-r-s-t-e-h-e-n wie es mir geht, was ich brauche? Nein? Weil mir keiner zuhören kann. Weil ich mir selbst nicht zuhören kann. Weil ich auch nicht weiß, was ich brauche. Wie soll ich Worte für ein Gefühl finden, was sich nicht beschreiben lässt. Einsamkeit ist… eine Lücke, eine Leerstelle. Ein Zustand der Nicht-Existenz.
Was hilft dir, wenn du dich einsam fühlst?
Mein großer Halt, wenn ich mich einsam fühle, ist mein Garten. Ich muss sagen, ich hatte in letzter Zeit auch Phasen, wo ich keinen Antrieb hatte. Da dachte ich: „Ja, du bist einsam.“ Ich komme mir dann manchmal, was soll ich sagen, so überflüssig vor, dann irgendwo mit hinzugehen. Dieses Jahr werden es zehn Jahre, wo mein Mann verstorben ist und das holt einen aber immer wieder ein. Das holt mich immer und immer wieder ein.
Wenn ich traurig bin, ich gehe hier in den Garten, ich finde hier im Garten meine Ruhe. Das Arbeiten in der Erde, in dem Dreck, das Buddeln, das Häckeln – das ist meins!
Graben, tief vergraben. Meine Hände und mit ihnen meine Probleme. Sodass Regenwürmer mein Leiden essen und verdauen und dann zu neuer, nährstoffreicher Bodenmasse ausscheiden. In diesen Momenten denke ich an nichts. In meinem Gehirn eine weiße Wand, mein Herz so leicht wie schon lang nicht mehr. In mir drin sind Welten, ich habe zu viel Schlimmes erlebt. Wenn ich mich mit der Erde verbinde, werden wir eins. Wenn die Zeit kommt, wird sie mich in ihr Reich aufnehmen.
Gibt es irgendwas, was man gegen das Gefühl der Einsamkeit machen kann? Welche Hürden gibt es dabei?
Es gibt Hürden, irgendwo als Frau alleine hinzugehen. Leute sind vielleicht so „was will denn die hier und mit wem ist denn die?“. Aber man muss einfach das machen, wozu man Lust hat. Versuchen, über den eigenen Schatten zu springen und was das Leben bietet, irgendwie anzunehmen. Es ist zum Beispiel ein Fest, und da gehe ich einfach mal hin, auch wenn ich alleine bin, keinen Partner habe. Man kommt immer mal mit Menschen ins Gespräch oder eben auch nicht, aber ich bin dann wenigstens an diesem Abend nicht allein, sondern in Gesellschaft. Wenn man da einfach tanzen will, dann muss man auf die Tanzfläche gehen und tanzen und nicht warten oder nicht tanzen, weil man keinen Partner hat. Man kann auch alleine super tanzen. Stimmt die Chemie, lerne ich jemanden kennen. Im günstigsten Fall bin ich dann sogar dauerhaft nicht mehr allein.
Ihr Glotz mich an, mit euren Glotzaugen. Weil ich mir nehme, was ich will. Ganz selbstverständlich. Warum denn auch nicht? Ihr teilt diese Erde mit mir, auch ich brauche meinen Platz. Kommt damit endlich klar, denn ich will nicht mehr warten. Ich habe riesigen Hunger. Hunger auf das Leben. Passt auf, sonst fress ich euch auch!
„Kennen Sie das Gefühl von Einsamkeit?“
Mit dieser Frage sind wir im August durch die Straßen und Marktplätze in Annaberg-Buchholz gelaufen und haben Menschen getroffen, die uns spannende, berührende und angstvolle Gedanken zu diesem Thema geteilt haben. Wer weiß, möglicherweise waren Sie eine der Personen und erkennen sich nun wieder. Doch warum stellen wir Menschen eine derart persönliche Frage, wozu überhaupt?
„Ich bin Shelly, 25 Jahre und im Erzgebirge, genauer gesagt in Annaberg-Buchholz, aufgewachsen. Für mich war die Region schon immer etwas Besonderes, auch weil ich gemischte Gefühle zu ihr aufgebaut habe. Einerseits haben wir die zauberhaften Weihnachtstage, an denen die Menschen im Erzgebirge näher zusammenzurücken scheinen. Dann wiederum gibt es im Jahr sehr selten Veranstaltungen, die Distanzen zwischen den Orten sind so groß, dass sie sich manchmal auch wie unüberwindbare Hürden im Kennenlernen des Anderen anfühlen. Kurzum: ich habe mich als junger Mensch im Erzgebirge sehr allein und sehr isoliert gefühlt also stellte ich mir die Frage, wie es wohl älteren Menschen geht, Frauen, Müttern, Menschen die abseits der „Norm“ lieben und leben.
Da ich schon immer künstlerisch Arbeite und der Meinung bin, dass uns Kunst schwere und komplexe Themen durch seine Form spielerhaft näherbringen kann – du betrachtest das Bild und du gibst diesem Bild deine Bedeutung – habe ich Arbeiten zu diesem Thema und anhand der Befragungen entworfen. Entstanden sind nicht nur Zeichnungen und Malerei, sondern auch Tonfiguren und ein Video, in dem wir das Thema tänzerisch bearbeiten. Wenn Sie die Ausstellung besuchen, werden Sie Formen und Farben erkennen, die sich wiederholen. Sie werden Ausschnitte aus den Interviews lesen und meine künstlerische Interpretation dazu vergleichen können. Lassen Sie sich von meiner Ausstellung anregen und sprechen Sie mit ihrem Umfeld drüber, denn eines habe ich gelernt: Einsamkeit lässt sich nicht ignorieren. Einsamkeit wird uns alle betreffen, an verschiedenen Punkten im Leben. Wenn wir offen darüber sprechen und die Scham ablegen, lässt sich auch Einsamkeit leichter ertragen.
Ich sende Ihnen alles Liebe.“
Shelly